[Moderne als Krankheit] Selbstmord als Symptom von Moderne als Krankheit

SUCH DEFENSES are perhaps easiest to see when they break down.
Diese Abwehrmechanismen [gegen Selbstmord] sind vielleicht am ehesten zu erkennen, wenn sie zusammenbrechen.

https://science.sciencemag.org/content/365/6455/748

Ausschnitt aus Moderne als Krankheit

Selbstmord ist eine einzigartige Fähigkeit von uns Menschen. Warum können wir uns überhaupt umbringen. Es gibt gute Gründe dafür, dass dies erst mit einer bestimmten Stufe der Selbsterkenntnis einhergeht. Erst mit einer gewissen Einsicht in die Natur des Todes kann man ihn als einen Weg erkennen, der ein Ende von Leiden bedeuten kann.

Weil das Leben so strukturiert ist, dass wir andauernd mit großem Leiden konfrontiert sind, brauchen wir Abwehrmechanismen gegen Selbstmord. Manch einer mag argumentieren, dass es ein Scheitern des Selbsterhaltungstriebs ist. Doch man kann auch dafür argumentieren, dass es ein Nebenprodukt unseres bizarr fortschrittlichen Geistes ist. Unsere Fähigkeit komplex und abstrakt zu denken hat uns eine Sonderstellung auf der Erde gegeben und unsere weite Verbreitung über sie ermöglicht. Doch gleichzeitig verbirgt sich auch der Tod in ihr. Das ist ganz wörtlich gemeint.

Die Neigung Schmerzen zu scheuen und an ihm zu leiden -- eine emotionale Beziehung zu Schmerz zu pflegen -- ist letztendlich ein Lebensinstinkt und eine Furcht vor dem Tod. Hunger oder Kälte sind nicht als vorübergehende Zustände ein Problem, sondern als Vorboten des Todes. Der Unterschied zwischen Leben und Tod ist die älteste Kategorie des Lebens und gleichzeitig die Wichtigste. Der individuelle Schmerz ist die individuelle Angst vorm Tod. Und implizit steckt in der Fortpflanzung die Erkenntnis, dass der eigene Tod nur dadurch überwunden werden kann, das etwas von uns den Tod übersteht. Durch Nachkommen, eine Hinterlassenschaft, einen Amoklauf oder auch ein Lebenswerk ist der Tod nicht getötet, aber teilweise aufgeschoben.

Hier erleben wir das Paradox des Selbstmords. Es ist uns Menschen möglich, dass der Tod uns verführt. Er schickt seine Vorboten, kleine Leiden, die wachsen und gedeihen, wenn wir sie nicht ernstnehmen. Es sind Krankheiten, die unsere Seele infizieren. Unsere Seele beginnt zu fiebern und zu husten. Bei einer echten Grippe ziehen wir uns zurück, damit unser Immunsystem seine Arbeit verrichten und uns heilen kann. Doch wenn sie Seele erkrankt ist, brauchen wir ein seelisches Immunsystem. Erst wenn das Immunsystem fehlt, stellen wir mit Schrecken fest, dass wir es bitter nötig haben.1

Wir brauchen Gründe, gute Gründe um zu leben. Das ist der Preis, den wir für unseren Geist bezahlen.


  1. Elizabeth Culotta (2019): Probing an evolutionary riddle, Science 6455, 2019, Vol. 365, S. 748--749. ↩︎

Kommentare

  • bearbeitet September 2019

    Das seelische Immunsystem, von dem du sprichst, scheint mir eine Erwähnung in der antifragilen Psyche wert zu sein.

    @Sascha schrieb:
    Wir brauchen Gründe, gute Gründe um zu leben. Das ist der Preis, den wir für unseren Geist bezahlen.

    Oder gute Betäubungsmittel. Dissoziieren, Ablenkung, Zucker, Informationen, Drogen und so weiter. Wir haben genug Auswahl.

  • @Johannes schrieb:

    @Sascha schrieb:
    Wir brauchen Gründe, gute Gründe um zu leben. Das ist der Preis, den wir für unseren Geist bezahlen.

    Oder gute Betäubungsmittel. Dissoziieren, Ablenkung, Zucker, Informationen, Drogen und so weiter. Wir haben genug Auswahl.

    Das steckt auch noch im Text. Aber kann ja nicht alle "Geheimnisse" hier ausplaudern.

  • Wie, also wir töten uns selbst, wenn die Furcht vor dem Tod (Schmerz & Leid) zu groß wird ?

  • Richtig. Ein Weg, den wir Menschen gehen können, weil wir um Tod und Leben wissen. (Siehe Bibel übrigens)

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